07 Aug Klaviermusik, HÉLÈNE GRIMAUD UND IGOR LEVIT
Wir hatten im Winter 2018/2019 das Glück zweier jener kostbarer emotionaler Konzerterlebnisse, die unsere Sehnsucht nach musikalischer und klanglicher Perfektion in den eigenen vier Wänden nähren. Momente, die entstehen, wenn sich das Werk des Komponisten, die Disposition des Musikers und seines Instruments und die Akustik des Aufführungsortes zu einem sinnlichen Ganzen verbinden und uns in andere Sphären der Wahrnehmung fliegen lassen. Die beiden wunderbaren Musiker, die uns diese Erlebnisse unmittelbar im Konzertsaal und später mittelbar zu Hause mit ihren Aufnahmen geschenkt haben, sind die Pianisten Hélène Grimaud und Igor Levit.
Empfehlenswerte Sitzplätze in der Tonhalle Düsseldorf
Der Weg zum Konzertgenuss führt über gute Sitzplätze im Saal. Zu Igor Levits Konzert am 2. Dezember 2018 saßen wir in der dritten Reihe halblinks im ersten Parkett. Bei Orchesterwerken mag es vorteilhafter sein, in der Tonhalle etwas weiter hinten zu sitzen, um den Überblick über das gesamte musikalische Geschehen zu behalten (z.B. auch auf den etwas günstigeren Plätzen in den ersten Reihen des Balkons gegenüber der Bühne). Doch für Solokonzerte entwickelt sich durch die Nähe zu Instrument und Künstler nahe der Bühne ein sehr schöner, intimer Rahmen. Für uns waren hier weder klangliche Kompressionen noch störende Reflexionen hörbar. Halbrechts im ersten Parket, auf Höhe des geöffneten Flügels sitzt man klanglich noch etwas näher, aber dafür bleibt einem der Blick auf die Hände des Pianisten verborgen.
Zwei Monate später beim Konzert von Hélène Grimaud saßen wir weiter entfernt von der Bühne links versetzt in der sechsten Reihe des zweiten Parketts. Es ist die letzte Reihe, die noch nicht von den darüber liegenden Balkonen überdacht wird. Diese Plätze profitieren akustisch von der halbhohen Holzwand im Rücken, die wirkungsvoll vor zeitversetzten Reflexionen von hinten abschirmt. Im Gegensatz zu den Plätzen direkt vor der Bühne gibt es hier jedoch leichte akustische Überlagerungen aus der Kuppel der Tonhalle. Eine kleine Warnung wollen wir an dieser Stelle für die Plätze direkt unterhalb der Balkone der Tonhalle aussprechen. Zumindest bei einem nicht rein akustischen, sondern elektronisch verstärkten Konzert haben wir hier schon die Erfahrung gemacht, dass vom musikalischen Geschehen so viele Details verlorengingen, dass ein genussvolles Hören nicht möglich war.
Für die Suche nach den besten Sitzplätzen können wir übrigens eine direkte Kontaktaufnahme mit der Konzertdirektion Heinersdorff empfehlen, die die meisten Konzerte in der Tonhalle veranstaltet. Das verfügbare Platzkontingent bei Heinersdorff ist größer als z.B. direkt bei der Tonhalle oder anderen Kartenanbietern und wenn sich Vakanzen ergeben, weil Abokunden zurücktreten, ruft Heinersdorff zuverlässig zurück. Auf diesem Wege sind wir schon mehrmals in den Genuss guter Sitzplätze gekommen, obwohl die Konzerte quasi ausverkauft waren.
Die Musiker und ihre Konzerte
Der Berliner und gebürtige Russe Igor Levit hat sich mit seinen erst 31 Jahren in den letzten Jahren in die erste Liga der Konzertpianisten gespielt und – soviel dürfen wir vorwegnehmen – mit diesem ersten Konzert, dass wir von ihm erlebt haben, auch in unsere Herzen. Wenn er die Bühne betritt, wirkt er bescheiden, vermeidet große Gesten und statt Pathos schwingt eine gelassen konzentriert demütige Körpersprache mit. Ein kurzer Gruß in das Publikum, dann setzt er sich hin und eröffnet sein Konzert mit der von Johannes Brahms für das einhändige Spiel mit der linken Hand übertragene Chaccona aus der d-Moll Partita von Bach. Dabei wiegt sich sein Körper ganz leicht, die rechte Hand hängt erst unbeteiligt am Hocker herunter, dann nähert sie sich dem Flügel, als ob sie ihn zart ertasten will, wird zum Bestandteil der Körperlichkeit des Spiels, auch wenn sie selbst keinen Ton erzeugt. Von den ersten Takten an nimmt er uns mit in seine musikalische Welt. Und diese Welt ist geprägt von großer musikalischer Freiheit, Sensibilität und Schaffensfreude. Er ist kein bloßer Rezitator sondern ein Schaffender, der uns das Gefühl gibt, die Stücke seines Repertoires würden zum ersten Mal gespielt.
Einige Monate zuvor hatte Igor Levit in einem Interview für das Magazin der SZ Ferruccio Busonis „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ als seine Bibel bezeichnet. Er tritt darin für die Freiheit der Musik ein, für die er das schöne Bild der „tönenden Luft“ findet, die wie ein Kind schweben, springen, fliegen und spielen will, anstatt in Regeln, Grammatik und Schriftsätzen eingesperrt zu werden. Diese Freiheit beansprucht auch Levit für sich, der z.B. neben dem Jazz Pianisten Fred Hersch die Rapper Eminem und Chance the Rapper zu seinen Einflüssen zählt. Und genau diese Haltung erleben und hören wir während seines faszinierenden Konzertes. Besonders in der zweiten Hälfte, nachdem Levit in der Pause den Steinway noch einmal stimmen lässt und der Eindruck entsteht, dass er mit dem nachbearbeiteten Instrument noch mehr Zutrauen gewinnt und sich in höchste Gefilde seines musikalischen Ausdrucks begibt. Liebe Leser – wann immer ihr die Möglichkeit habt, Igor Levit im Konzert zu erleben, gebt euer vorletztes Hemd für eine Eintrittskarte. Wenn er in der Verfassung spielt, in der wir ihn erlebt haben, werdet ihr das Konzert nie mehr vergessen.
Den unprätentiösen, bescheidenen Auftritt teilt Hélène Grimaud mit Igor Levit. Wenn sie die Bühne betritt, freundlich aber ernst, scheint sie zu schweben und verleiht ihrer Präsenz bis hin zur tiefen, schwerelos anmutenden Verbeugung eine weiblich zarte Note. Es ist eine Aura des Besonderen, die sowohl ihr Spiel als auch ihre Persönlichkeit durchzieht und Marcel Reski, LaMusiuka Freundeskreis-Mitglied und Erfinder der Instrumagic Produkte zur Klangoptimierung von Flügeln, zum Schwärmen bringt: „Sie ist einer der eindrucksvollsten Menschen, die ich bisher getroffen habe. Sie strahlt eine große Sanftheit und Natürlichkeit aus. Wenn sie spielt, scheint sie zu verschwinden und es entsteht eine besondere weibliche Schönheit in ihrer Musik. Es ist jedes Mal eine große Freude, sie zu sehen und mit ihr zu arbeiten.“
Das Programm, das wir an diesem Abend von ihr hören, geht Hand in Hand mit unserer und Marcels Wahrnehmung von dem diesem wundervoll charismatischen Menschen HélèneGrimaud. Es ist überwiegend ihrem aktuellen Album „Memory“ entliehen und besteht aus einer Sammlung kurzer romantisch impressionistischer Stücke von Chopin, Debussy, Satie und Silvestrov. Keine pianistische Kraftmeierei, sondern zarte musikalische Miniaturen, in denen man sich verlieren kann. Fast verlieren muss, da sie die 13 Stücke bis zur Pause ohne Unterbrechungen für Applaus durchspielt und sich auch unsere Wahrnehmung irgendwann durch die nachlassende Konzentration von einem bewussten (Zu-)hören zum (Durch-)hören der uns durchdringenden Musik wandelt. Es würde uns nicht wundern, wenn dieser Effekt sogar gewollt von Hélène Grimaud inszeniert wurde, entsteht doch so ein Bewusstseinszustand entspannter Kontemplation, der Raum für die Erinnerung – eben „Memory“ schafft. Nur einmal vor der Pause wagt einer der Zuhörer den zaghaften Versuch eines Beifalls, der jedoch schon vor seinem Anschwellen von Frau Grimaud mit einer Nocturne von Chopin ohne ein Wimpernzucken beendet wird. Zartheit und Durchsetzungskraft müssen kein Widerspruch sein. Der Teil nach der Pause führt das musikalische Konzept des Abends fort und so braucht es fünf Zugaben Grimauds, in denen sie ein pianistisches Feuerwerk abfackelt, bis das Publikum aus der kontemplativen Atmosphäre des Konzertes erwacht und der höfliche Applaus zu Standing Ovations und Bravo Rufen anwächst.
Die Aufnahmen
Beide Künstler haben das Programm ihrer Konzerte ihren aktuellen Veröffentlichungen entnommen, die wir euch wärmstens empfehlen wollen.
Igor Levits Doppel CD „Life“ entstand aus dem ambivalenten Gefühl des Schmerzes über den Verlust seines verstorbenen Freundes Hannes einerseits und der Dankbarkeit für die Freundschaft und Inspiration, die er durch ihn erfahren hatte, andererseits. So fand er zu einer Auswahl an Stücken, die wie in einem Requiem dunkle Farben der Trauer, aber auch Licht und Trost zulassen. Er selbst sagte in einem Interview dazu, dass die Musik der CD das Leben als solches im wahrsten Sinne feiert. Für uns ist es nicht nur die sensible Auswahl der Stücke, die von Bach, Liszt, Schumann, Busoni bis Bill Evans reicht, die diese Einspielung so besonders macht. Lebensmomente wie die, in denen sich Igor Levit damals befand, sind Zeiten höchster emotionaler Dichte, in denen wir verletzlich, aber auch sensibel und empfänglich sind. Vielleicht ist es genau dieser Gemütszustand, der uns in seinem Spiel so berührt und der Grund dafür ist, dass „Life“ momentan jeden unserer Tage begleitet. Die Aufnahme hat einen für einen Steinway (Levit spielt privat Steinway und hat vermutlich auch hier einen benutzt) warmen Ton. Ein klanglicher Einfluss des Aufnahmeraumes ist nicht zu hören – man sitzt akustisch direkt im Instrument. Die Veröffentlichung ist leider nicht als Vinyl erhältlich sondern nur als CD oder als Download mit 96 KHz. Die Unterschiede zwischen der CD (44,1 KHz) und dem Download sind trotz des überlegenen Datenformates sehr gering und gehen erstaunlicherweise zu Gunsten der CD aus. Was darauf schließen lässt, dass ggf. für das 96 KHz neu (und nicht zum Guten) in die Abmischung eingegriffen wurde oder gar nur mit 44,1 KHz aufgenommen wurde (was aber eigentlich 2018 nicht mehr der Fall gewesen sein sollte…).
Die Aufnahme von Hélène Grimauds „Memory“ geht einen anderen Weg. Sie entstand in der Himmelfahrtskirche München Sendling, einer relativ kleinen Kirche mit einer geschätzt 6-8 m hohen Holzdecke. Der Raum ist in der Aufnahme deutlich wahrnehmbar und geht in das künstlerische Konzept Grimauds ein. Sie selbst sagt dazu im Plattentext: „Das ganze Klangkonzept ändert sich radikal, wenn man von Hall umgeben ist – vom Hall jeden einzelnen Tons und vom Hall zwischen den Tönen.“ Und hier kommt dann tatsächlich auch der Einfluss des Speichermediums und die Sorgfalt bei der Musikwiedergabe zum Tragen – hier entscheidet sich, ob der von der Musikerin gewollte künstlerische Ausdruck erlebbar wird oder nicht. Korrekte Rauminformationen und natürlicher Hall sind für die Musikwiedergabe äußerst anspruchsvolle Aufgaben. Die Gefahr ist groß, dass z.B. im Ausschwingverhalten feinste Klanginformationen verloren gehen und das Microtiming zwischen Ton und Pause oder Ton und nächstem Ton durcheinandergerät. Andere Fallstricke sind die Überlagerung von Klangereignissen im Hall, die dann „zumulmen“ und nicht mehr differenziert hörbar sind. Am Beispiel von „Memory“ zeigt sich hierbei die Überlegenheit der Vinyl Version gegenüber dem bereits ordentlich klingenden 96 KHz Download. Im Digitalformat ist nur erkennbar, dass es so etwas wie einen undifferenzierten Hall auf der Aufnahme gibt, aber erst die Schallplatte zieht den Schleier zur Seite, hinter dem der Aufnahmeraum in seiner realistischen Dimension hörbar wird. Voraussetzung hierfür ist jedoch ein fein abgestimmtes Wiedergabeorchester (Hifi-Anlage) und eine durch optimierende Maßnahmen von störenden Verzerrungen und Resonanzen befreite Abtastung des Vinyls. Diesem Thema werden wir einen gesonderten Beitrag widmen und euch dabei helfen, das Beste aus euren Schallplattensammlungen herauszuholen.